Ein 14-Mal verhafteter Schwarzer ermordet eine junge Frau. Die Debatte über Rasse und Kriminalität ist in vollem Gang. Sie folgt seit zwei Jahrhunderten einem Wellenmuster. In Europa wird es zukünftig nicht anders sein. Von Johannes Konstantin Poensgen

Alles fordert Härte. Law and Order! Die Filmaufnahmen, welche die Ermordung Iryna Zarutskas zeigen, sind auch schwer zu ertragen und ich bilde mir ein, da abgestumpfter zu sein, als die meisten. Vielleicht auch zynischer. Letzteres veranlasst mich zumindest dazu, eher fragend auf die Folgen zu blicken. Viele erwarten eine Wende. Doch zwei Jahrhunderte amerikanischer Politik sprechen dagegen.
Auch wenn es manchen europäischen Rechten nicht passt, sind die Vereinigten Staaten nicht fundamental anders als Europa. Sie sind uns in der Entwicklung zur multirassischen Gesellschaft nur voraus. Mit allen Konsequenzen. Ob die Vorfahren eines Messerstechers nun 1670 auf einem Sklavenschiff ankamen, oder ob er vor 5 Minuten eingebürgert wurde, macht nicht den geringsten praktischen Unterschied aus. Wie uns sämtliche Juristen, die die letzten vier Monate immer wieder und wieder erklärt haben, ist es auch juristisch irrelevant.
Unterschiedliche Gruppen haben unterschiedliche Kriminalitätsneigungen, teilweise sehr stark unterschiedliche. Wenn Gruppen nicht getrennt werden, dann muss die weniger verbrecherische Gruppe automatisch mit der Kriminalitätsneigung der verbrecherischeren Gruppe leben. Es wird einfach Teil des allgemeinen Lebensrisikos.
Weil die Vereinigten Staaten sich seit Bestehen mit der Frage herumschlagen müssen, wie sie mit ihrer schwarzen Bevölkerung umgehen, sehen wir dort die Muster und Mechanismen, die auch auf Europa zukommen. Wir können die Wellenbewegung dieser Politik über zweieinhalb Jahrhunderte verfolgen.
Nach der Unabhängigkeit waren die Schwarzen bekanntlich Sklaven. Ursprünglich war die Sklaverei natürlich vor allem ökonomisch motiviert. Aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war dies im Süden vor allem auch ein Kontrollmechanismus für das Verhalten der schwarzen Bevölkerung geworden. Und während die Abolitionisten den „man and brother“ glaubten zum zivilisierten Bürger machen zu können, sah man das im Süden realistischer. Das war der Grund, aus dem 1,2 Millionen Südstaatler, die in der überwältigenden Mehrheit keine Sklaven besaßen, bereit waren deswegen in einen aussichtslosen Krieg zu ziehen.
Durch den Sieg der Nordstaaten wurde die Sklaverei abgeschafft und den befreiten Sklaven gleich dazu die Staatsbürgerschaft verschafft. Darauf folgte eine Epoche der amerikanischen Geschichte, die heute fast vollkommen aus dem Gedächtnis getilgt wurde. Während der Reconstruction genannten militärischen Besatzung des Südens wurde der erste Versuch unternommen, das Zusammenleben von Weißen und Schwarzen auf der Grundlage staatsbürgerlicher Gleichberechtigung zu regeln. Das Ergebnis war verheerend und stückweise wurden in Folge die als Jim-Crow-Laws bekannten Gesetze zur Rassentrennung eingeführt. Diese schufen nicht nur getrennte soziale Räume für Weiße und Schwarze in Schulen und öffentlichem Verkehr, sondern schlossen de facto auch einen großen Teil der Schwarzen vom Wahlrecht aus. Offen wurde das nie formuliert, aber die Einführung von Alphabetisierungstests für die Wahlregistrierung hatte in der Praxis dieses Ergebnis.
Die Rassentrennung war immer umstritten und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzten sich die Gegner durch. Zunächst im öffentlichen Raum. Busse, Züge und Schulen wurden entsegregiert. Rassisch exklusive Wohngebiete verboten. Dann, mit den Bürgerrechtsgesetzen der 1960er griff die Antidiskriminierung auch auf die privaten Rechtsgeschäfte über. Seitdem ist es auch privaten Unternehmen nicht länger erlaubt auf Grundlage der Rasse zu diskriminieren.
Die Konsequenz war die Kriminalitätswelle der 70er und 80er, Anfang der 90er schälte sich in Reaktion auf die um sich greifende Kriminalität ein Konsens des „tough on crime“ heraus. Die Vereinigten Staaten bekamen das härteste Strafrecht in der westlichen Welt. Regeln wie „three strikes and you are out“, bei der die dritte Verurteilung, egal wegen welcher Straftat, zu einer lebenslangen Haftstrafe führte, sollten Intensivtäter vor ihrer ersten schweren Körperverletzung, ihrem ersten bewaffneten Raubüberfall, ihrer ersten Vergewaltigung oder ihrem ersten Mord aus dem Verkehr ziehen. Dieser Konsens bestand in beiden Parteien. Einer der ironischen Momente der Präsidentschaftswahl 2020 war, dass Joe Biden von einem Video eingeholt wurde, welches ihn im Jahr 1994 zeigt und in dem er unnachgiebige Härte gegenüber gewalttätigen Straftätern fordert.
So kann es kommen, wenn man zu lange in der Politik ist. 2020 hatte sich nämlich der Wind wieder gedreht. Die Verbrechensrate war gesunken und nun empfanden es wachsende und vor allem laute Teile der Bevölkerung als unerträglich, wie viele junge schwarze, oft wegen wiederholter Drogendelikte, auf Jahre und Jahrzehnte im Knast saßen. Der Black-Lives-Matter-Bewegung gelang es, die Kontrollfunktion von Polizei und Justiz zurückzudrängen. Erwartbar war ein massiver Anstieg der Gewaltkriminalität die Folge.
Nun scheint das Pendel wieder in die andere Richtung auszuschlagen. Doch die langfristige Tendenz ist damit nicht gebrochen. In den letzten anderthalb Jahrhunderten haben sich langfristig immer diejenigen durchgesetzt, die eine Gleichberechtigung der Schwarzen und damit eine Inkaufnahme ihrer höheren Kriminalitätsneigung verlangten. Keine Gegenbewegung ging je dahin zurück, wo man vorher gestanden war. Vielleicht ist es diesmal anders, aber bis jetzt sieht man keinen namhaften Politiker in Amerika, der auch nur die Rücknahme der Bürgerrechtsgesetze aus den 1960ern verlangt.
Europa ist erst seit kurzem multirassisch und wir erleben zurzeit die erste Gegenbewegung gegen die Folgen. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Geschichte bei uns anders verlaufen wird, solange das Grundproblem vorhanden bleibt.
