Die Abstoßung der Ukraine ist eingeleitet

Der Ukrainekrieg ist verloren, da berichtet die Presse auf einmal kritisch über das Land. Selenskyjs Maßnahmen gegen Antikorruptionsbehörden werden zum Vorwand, die Ukraine fallen zu lassen und das Thema zu wechseln. Kommentar von Johannes Konstantin Poensgen

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(Selenskyj: The Presidential Office of Ukraine, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Selenskyj mit dem Rücken zur Wand

Niemand braucht Mitleid mit Wolodymyr Selenskyj zu haben. Aber der Komiker, den seine oligarchischen Hintermänner zum Präsidenten hatten wählen lassen, ist sicherlich nicht der Hauptverantwortliche für diese Katastrophe. Die Verantwortlichen sitzen in westlichen Hauptstädten. Und wer die jüngste Berichterstattung über die Ukraine liest, der kann nur zu einem Schluss kommen: Man hat erkannt, dass der Krieg verloren ist – und tut das Einzige, was die herrschende Elite überhaupt noch kann: den Narrativ wechseln. So wie Corona auf einmal weg war und niemand bitte mehr Fragen stellen soll, warum wir zwei Jahre eingesperrt wurden, wer dafür verantwortlich ist und wer daran verdient hat.

Genauso wird es nun mit der Ukraine geschehen. Nur dass man hier einen Sündenbock braucht und dafür eignet sich Selenskyj bestens. Immerhin hat er alles gemacht, was von ihm verlangt wurde, und die Kriegsposition intern durchgesetzt.

Selenskyj ist kein Musterdemokrat

Selenskyj ist ein Diktator. Das ist einfach ein Fakt. Man kann natürlich die Ansicht vertreten, dass die Ukraine eine Kriegsdiktatur braucht. Aber als prowestlicher Diktator entgeht er nicht dem Schicksal all seiner früheren Kollegen – von Pinochet über Schah Pahlavi bis Saddam Hussein: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.

Der prowestliche Diktator lebt ja in der Zwickmühle, dass er einerseits für den Westen die Drecksarbeit macht, andererseits aber auf eine Weise regiert, die den „westlichen Werten“ widerspricht. „Er ist ein Drecksack, aber unser Drecksack“, wie das geflügelte Wort im amerikanischen Außenministerium lautet. Geht es schief oder ist er einfach überflüssig geworden, braucht die Presse nur anzufangen, über die Schattenseiten seiner Herrschaft zu berichten und von heute auf morgen ist er einfach nur noch ein Drecksack.

Lässt der Westen die Ukraine fallen?

Dieses Schicksal wartet nun auf Selenskyj. Für niemanden, der die westliche Medienlandschaft ein wenig im Blick hat, ist das noch zu übersehen. Seit einigen Wochen wird die antiukrainische Berichterstattung beständig lauter. Bereits vor einem Monat veröffentlichte die britische Daily Mail eine wüste Abrechnung über den Tod eines zwanzigjährigen Briten, der sich für den Kampf in der Ukraine freiwillig gemeldet hatte und angeblich von ukrainischen Kommandosoldaten für eine Selbstmordmission eingesetzt worden war.

Jetzt hat die Ukraine ein Gesetz verabschiedet, das die Unabhängigkeit von zwei Antikorruptionsbehörden einschränkt. Gleichzeitig durchsucht der Geheimdienst SBU 70 Wohnungen. Als Wahlen ausgesetzt und Oppositionsparteien samt ihrer Presse verboten wurden, als Bewaffnete Klöster der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche stürmten – da hat die Presse im Westen geschwiegen. Ebenso, als die vom Westen gelieferten Waffensysteme bald auf den weltweiten Schwarzmärkten auftauchten.

Der Westen entdeckt die Korruption in der Ukraine wieder

Auf einmal aber entdeckt dieselbe Presse ihre Besorgnis über Korruption und Repression. „Dieses Gesetz ist nicht hinnehmbar“ titelt die Tagesschau. „Wie Selenskij sein Land und die EU gegen sich aufbringt“, schreibt die Süddeutsche. „Korruptions-Krise erschüttert die Ukraine: Proteste gegen Selenskyj – „Schande! Schande!“ lautet der Titel der Frankfurter Rundschau.

Wie sieht es international aus? In den Vereinigten Staaten titelt Politico „Anger builds in Ukraine as Zelenskyy signs law targeting corruption watchdogs“. Ukraine sees sweeping protests over bill weakening anti-corruption agencies“ ist die Überschrift bei Fox News. In Frankreich schreibt le Monde: „Ukraine: le vote d’une loi sapant l’indépendance de deux instances anticorruption déclenche de vastes manifestations“.

Selbst Großbrittanien rückt ab

Nicht einmal die britische Presse hält Selenskyj mehr bedingungslos die Stange. Von allen westlichen Eliten war die britische Führungsschicht von Anfang an stärker in mit dem Projekt Ukraine verbandelt, als selbst die Amerikaner. Als 2022 die Ukraine kurz davor stand, die Bedingungen des Istanbuler Abkommens anzunehmen, war es Boris Johnson, der Selenskyj unbegrenzte Unterstützung versprach, aber nur, wenn er den Krieg weiterführt. Nun schreibt der Guradian: „Zelenskyy defends bill stripping anti-corruption bodies’ independence amid protests“ und der Untertitel im Telegraph lautet immerhin noch, „The heroic president’s support for a Bill that targets anti-corruption bodies is a terrible error“. Das ist positiver, als im Rest der Westpresse, aber Lobeshymnen sind das auch nicht.

Seit dieser Krieg begann, gibt es Spekulationen darüber, wann der Westen Selenskyj fallen lassen wird. Aber hier geht es nicht um Selenskyj. Nicht um einen Komiker, der von einem Oligarchen namens Ihor Kolomojskyj mittels einer Fernsehshow zum Präsidenten gemacht wurde, weil er im Streit mit dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko lag. Was hier fallen gelassen wird, ist die Ukraine.

Ist der Krieg verloren?

Die Realität ist schlichtweg, dass dieser Krieg verloren ist. Er war verloren, seit der ursprüngliche Plan, Russland durch Sanktionen in die Knie zu zwingen, 2022 scheiterte. Dass die rüstungsindustrielle Basis der russisch-chinesischen Achse deutlich stärker ist als die der NATO, wurde im Verlauf des ersten Kriegsjahres deutlich. Weil niemand die Verantwortung für eine Kurskorrektur übernehmen wollte und weil Personen wie der US-Senator Lindsey Graham der Ansicht waren, dass es doch eine gute Investition sei, wenn Russen dabei sterben. Dass dabei auch Hunderttausende Ukrainer ihr Leben ließen, war diesen Leuten immer gleichgültig. Die Ukraine bleibt als ausgeblutete Hülle zurück. Millionen Ukrainer, die ins Ausland gegangen sind, werden niemals zurückkehren.

Da bleibt derselben Presse, die all das bejubelt hat, eine einzige Aufgabe: Die Karawane muss weiterziehen. Wenn die ukrainische Front zusammengebrochen sein wird, dann wird Selenskyj der Schuldige sein. Zurück bleiben hunderttausende Tote, ein auf Generationen gebrochenes Land und die strategische Bankrotterklärung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Doch bald ist es vorbei. Dann soll niemand mehr Fragen stellen – nicht danach, warum dieser Krieg dreieinhalb Jahre gedauert hat, nicht danach, wer dafür verantwortlich war, und vor allem nicht danach, wer daran verdient hat.