Gerhard Vierfusz hat als Anwalt mehrere Prozesse gegen VS-Einstufungen geführt. Wir haben ihn zu dem jüngsten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts gegen die AfD befragt.

(Bildmontage: Offensiv!; Gerhard Vierfusz: Privat; Bundesverwaltungsgericht Leipzig: Manecke, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Offensiv!: Herr Vierfuß, Sie hatten sich mit dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts zur Einstufung der AfD als „Verdachtsfall“ befasst. Zunächst eine Frage für die Nichtjuristen: Was ist das für ein Beschluss – über was wurde da überhaupt entschieden?
Vierfusz: Genau gesagt sind es drei Beschlüsse, weil drei verschiedene Verfahren liefen:
- zur Beobachtung der AfD als Verdachtsfall,
- zur Beobachtung der Jungen Alternative (JA) als Verdachtsfall,
- zur Beobachtung des ehemaligen Flügels der AfD als gesichert rechtsextremistisch.
In allen drei Verfahren hatten sowohl die erste als auch die zweite Instanz die Klagen der AfD (in der zweiten Sache gemeinsam mit der JA) abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hatte die – grundsätzlich mögliche – Revision zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) nicht zugelassen (was der Normalfall ist). Gegen diese Entscheidung legte die AfD in allen drei Fällen die sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde ein. Diese wurden jetzt allesamt vom BVerwG aus formalen Gründen zurückgewiesen.
Weil die drei Verfahren parallel liefen, dasjenige der AfD selbst bei weitem das relevanteste ist und zudem nicht nur der Flügel, sondern inzwischen auch die JA aufgelöst wurde, ist in der öffentlichen Diskussion meistens von „dem Verfahren“ die Rede.
Offensiv!: Sie sagen „aus formalen Gründen“. Über was wurde denn dann überhaupt entschieden und worüber nicht?
Vierfusz: Eine Revision – also das Rechtsmittelverfahren, das die AfD anstrebte – ist an bestimmte, im Gesetz einzeln aufgezählte formale Kriterien geknüpft: Zum Beispiel ist sie dann zulässig, wenn die Entscheidung in der Sache von grundsätzlichen Fragen abhängt, die bisher noch nicht höchstrichterlich geklärt sind. Oder wenn die Vorinstanz von höchstrichterlicher Rechtsprechung abgewichen ist. Oder wenn bestimmte schwerwiegende Fehler im Verfahren passiert sind, etwa formale Vorschriften über die Öffentlichkeit der Verhandlung missachtet wurden.
In diesen Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerden ging es ausschließlich darum, ob dem OVG derartige formale Fehler unterlaufen waren oder nicht. Das BVerwG kam zu dem Ergebnis, es habe keine solchen Fehler gegeben, die für das Urteil relevant gewesen sein könnten. Eine inhaltliche Überprüfung des Urteils des OVG fand gar nicht statt.
Offensiv!: Nun hatte Maximilian Krah dieses Urteil allerdings als eine Bestätigung seiner Position aufgefasst. Er schrieb wörtlich:
„1. Der Staat ist ethnisch und religiös blind. Jede Unterscheidung nach ethnischen und religiösen statt rechtlichen Kriterien ist verfassungswidrig. Es reichen bereits politische Zielsetzung und mittelbare Diskriminierung, direkte Eingriffe wie Aberkennung der Staatsangehörigkeit sind nicht erforderlich. Also, was ich seit Monaten sage.
2. Die AfD muss derartigen Äußerungen und Auffassungen aktiv entgegentreten. Der Verweis auf die eigene Programmatik reicht nicht aus, ein Offenlassen spricht gegen die Partei. Auch das war klar.“
Bevor wir das im Einzelnen durchgehen: Kann man überhaupt so eine Aussage aus diesem Urteil ableiten?
Vierfusz: Nein, kann man nicht. Und es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie das überhaupt möglich sein könnte – aus den oben dargelegten Gründen. Dann hätte das BVerwG schon mächtig über seine Aufgabe, über die Beschwerde zu entscheiden, hinausgehen müssen und quasi nebenbei der AfD noch etwas „ins Stammbuch schreiben“ müssen, ohne dazu formal genötigt zu sein. Hätte ich sehr seltsam gefunden. Aber weil Krah das behauptete, habe ich mir tatsächlich den gesamten Beschluss zur AfD durchgelesen. Da steht nichts derartiges drin.
Offensiv!: Mit dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts ist dann auch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen in Münster zur Einstufung der AfD als Verdachtsfall endgültig rechtskräftig. Sie haben sich ja ausgiebig mit diesem Urteil und seiner Bedeutung für die AfD befasst. Welche Folgen hat das für die Partei? Was darf man jetzt – und was nicht?
Vierfusz: Tatsächlich habe ich mich gerade gestern noch einmal mit dem AfD-Urteil des OVG NRW beschäftigt, und ich war erneut erstaunt über dessen herausragende Qualität. Womit ich nicht sagen will, dass es daran nichts zu kritisieren gäbe – keineswegs. Aber es ragt dennoch heraus aus der bisherigen Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit neurechter Gruppierungen (im weitesten Sinne) wie der Identitären Bewegung und eben der AfD (die nicht wirklich eine neurechte Gruppierung ist, aber in dem Feld steht).
Und das Erstaunliche ist, dass fast niemand diese außerordentliche Qualität des Urteils erkennt – anscheinend nur Maximilian Krah, mit dem ich an dieser Stelle einmal einig bin, und ich.
Was ist nun dieses Außerordentliche? In sämtlichen mir bekannten vorherigen Verfahren dieser Art hatten die Verwaltungsgerichte völlig unreflektiert die substanz- und sinnlosen Phrasen und Floskeln des Verfassungsschutzes übernommen, in denen von der Zielsetzung, die ethnokulturelle Identität des deutschen Volkes zu erhalten, reflexhaft auf eine Verletzung der Menschenwürde geschlossen wurde. Ich habe ja als Anwalt der IBD direkt und sogar doppelt diese schmerzvolle Erfahrung gemacht, mit allen Argumenten auf taube Ohren zu stoßen und immer nur mit leeren Worthülsen beworfen zu werden.
Das OVG NRW wies diese Worthülsen des VS – jedenfalls einen wesentlichen Teil davon – zurück. Es dachte wirklich selbst nach und wandte das Recht an. Und kam zu dem – in der BRD des Jahres 2024 eigentlich unvorstellbaren – Ergebnis: Die Verfolgung des politischen Ziels, die ethnokulturelle Identität des deutschen Volkes zu erhalten, stellt für sich genommen keinen Anhaltspunkt für verfassungswidrige Bestrebungen dar. Das Gericht verwendet nicht exakt diese Worte, aber es zitiert unter anderem Höcke, der vom Volk als „dynamischer Einheit aus Abstammung, Sprache, Kultur und gemeinsam erlebter Geschichte“ sprach, und Gauland, der sagte, dass Veränderungen des Staatsvolks wie die, die wir gerade beobachten, abzulehnen seien. Außerdem zitiert es aus der Erklärung der AfD zum Staatsvolk und zur deutschen Identität die Formulierung „ethnisch kultureller Hintergrund“, bringt dies alles zusammen und schreibt dann: Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das ist das staatliche Gütesiegel für das Anstreben des rechten Hauptziels, wie Martin Sellner es nennt: die Erhaltung der ethnokulturellen Identität des deutschen Volkes.
Offensiv!: Nun fordern Sie in Folge auf das Urteil vor allem eine Änderung des Tonfalls in der AfD. Was meinen Sie damit?
Vierfusz: Das ist die andere Seite des Urteils: Die Berufung der AfD wurde ja zurückgewiesen, die Beobachtung durch den VS für rechtmäßig erklärt. Und die Gründe dafür liegen in zahlreichen Äußerungen von AfD-Funktionären auch der allerersten Reihe – Weidel, Höcke, Brandner, Krah usw. –, die aus Sicht des Gerichts den Anschein erwecken können, die AfD verfolge nicht nur das oben genannte Ziel – was, wie gesagt, rechtlich unproblematisch wäre –, sondern sie verfolge es auf eine Weise, die deutsche Staatsangehörige fremder ethnischer Herkunft rechtlich diskriminiert. Das sind Formulierungen wie „Passdeutsche“ oder abfällige Bemerkungen über die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die „keine echte Nationalmannschaft mehr sei“. Es sind auch noch andere Formulierungen, die das Gericht dazu brachten, einen Verdacht rechtsextremistischer Ziele gegen die AfD für vertretbar zu halten: scharfe Äußerungen über Migranten, die nach Auffassung des Gerichts über eine – zulässige – Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung hinausgehen und als Angriff auf die Menschenwürde der Migranten verstanden werden können.
Offensiv!: Und Sie meinen, dass Funktionäre der AfD solche Äußerungen unterlassen sollten?
Vierfusz: Ja, aus folgendem Grund: Die AfD steht ja auf dem Standpunkt, sich vollständig im Rahmen des Grundgesetzes zu bewegen. Und dabei kommt es überhaupt nicht auf unterschiedliche Auslegungen des Grundgesetzes an. Die AfD ist der Auffassung, die allgemeinen Grundsätze, die das OVG NRW seinem Urteil zugrunde legte, zu beachten. Insbesondere weist sie den Verdacht weit von sich, deutsche Staatsangehörige fremder Herkunft rechtlich diskriminieren zu wollen. Und niemand, der die AfD kennt, wird ihr eine solche Absicht ernsthaft unterstellen.
Wenn dies alles so ist – die AfD also nur Ziele verfolgt, die auch nach Auffassung des OVG NRW mit dem Grundgesetz vereinbar sind –, welchen Sinn hat es dann, Formulierungen zu verwenden, die etwas anderes ausdrücken? Ich habe kürzlich einen Vergleich mit der Linkspartei gebracht: Nehmen wir an – rein hypothetisch –, die Linkspartei träte öffentlich immer mit dem Spruch auf: „Erschießt die Reichen!“ Schließlich wird sie vom VS beobachtet, klagt dagegen, und das Gericht bescheinigt ihr, die Beobachtung erfolge zu Recht, denn der Spruch „Erschießt die Reichen!“ erwecke den Verdacht, die Partei verfolge das Ziel, die Reichen zu erschießen. Was die Linkspartei selbstverständlich gar nicht beabsichtigt (wie wir zu ihren Gunsten annehmen wollen). Ist es dann nicht sinnvoll, zukünftig auf den Spruch zu verzichten? Das Beispiel ist gar nicht so unrealistisch. In Südafrika kursiert der Spruch „Kill the Boers!“ Die Partei, die ihn verwendet, behauptet, das sei reine Folklore.
Wir sind jetzt über die Frage, ob der Ausdruck „Passdeutscher“ wirklich abwertend ist, hinweggegangen; aber die ist auch juristisch irrelevant, weil jetzt rechtskräftig festgestellt wurde, dass das so ist – und ich halte diese Einschätzung für sehr gut nachvollziehbar.
Offensiv!: Bei manchen Poltersprüchen mag das einsichtig erscheinen, aber Sie haben sich auch explizit gegen den Ausdruck „Passdeutsche“ ausgesprochen, um nicht den Anschein zu erwecken, man wolle zwischen ethnischen Deutschen und Staatsbürgern mit Migrationshintergrund diskriminieren. Endet man damit nicht bei dem Witz, dass die einfachste Maßnahme gegen Ausländerkriminalität die Masseneinbürgerung sei?
Vierfusz: Der von Ihnen zitierte Witz scheint mir hier nicht ganz zu passen, oder jedenfalls deutlich zu weit zu gehen. Aber Tatsache ist, dass wir – auch da hat Krah wieder recht – an die Staatsbürger nicht „herankommen“. Präzise gesagt: nicht mit rechtlichen Zwangsmitteln herankommen. Sicher, es gibt im Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) Regelungen, die eine Rücknahme der Einbürgerung in bestimmten Fällen ermöglichen, insbesondere in solchen Fällen, bei denen die Einbürgerungsentscheidung durch eine arglistige Täuschung zustande kam.
AfD-Politiker reden daher davon, der Staat solle jetzt systematisch alle Einbürgerungen der letzten zehn Jahre – das ist die Frist, innerhalb derer dies möglich ist – überprüfen und ggf. rückgängig machen. Das mag in einigen Fällen tatsächlich funktionieren. Allerdings habe ich große Zweifel, dass auf diese Weise eine größere als vierstellige Zahl von Fällen erfasst und korrigiert werden kann. Denn Sie müssten ja heute aus den vorliegenden Akten Täuschungshandlungen rekonstruieren, die damals nicht bemerkt wurden, und Sie müssten außerdem beweisen, dass diese Täuschungshandlungen kausal für die Einbürgerung waren.
Als Weg, die massenhaften Einbürgerungen der massenhaft ins Land geströmten Fremden rückabzuwickeln, scheint mir das komplett untauglich. Daraus folgt, dass wir die eingebürgerten neuen deutschen Staatsangehörigen als solche akzeptieren müssen. Aber das ist ja nicht das Ende aller Überlegungen.
Offensiv!: Mit Krah sind Sie sich aber uneins darüber, welche Mittel hier angewandt werden dürfen?
Vierfusz: Ja. Krah hört an dieser Stelle mit dem Nachdenken auf – er differenziert nicht in der Weise, wie ich es gerade eben getan habe, als ich sagte: Es geht nicht mit rechtlichen Zwangsmitteln. Und ich präzisiere: Krah hört seit einiger Zeit auf, an der Stelle weiterzudenken. In seinem Buch Politik von rechts, das erst gut zwei Jahre alt ist, war das noch anders. Darin findet sich der bemerkenswerte Satz: „Die Remigration der nicht Integrationswilligen und -fähigen kann nur in großer Zahl gelingen, wenn sie kooperieren.“ (S.60) Und das ist der entscheidende Punkt: Eingebürgerte Migranten können wir – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht zwingen, in ihre Heimat zurückzukehren.
Wir können aber durch eine Politik, die alle gleichermaßen betrifft und niemanden diskriminiert, eine gesellschaftliche Lage schaffen, in der für jeden klar wird: „Das hier ist Deutschland, das Land der Deutschen, eines Volkes mit einer großen Geschichte und einer mächtigen Kultur – und ich habe jetzt die Möglichkeit, mich diesem Volk wirklich anzuschließen, d. h. zu assimilieren, oder zu erkennen, dass ich niemals heimisch sein werde in diesem Land und darum besser wieder in mein wirkliches Heimatland zurückkehren sollte“. Das ist die Politik der deutschen Leitkultur, von der Martin Sellner spricht. Das ist der Weg — oder ein Teil des Weges, neben sehr viel härterem Vorgehen gegen Clankriminalität etwa —, auf dem Remigration in einem nicht nur liberalen, sondern substanziellen Sinn möglich ist.
Offensiv!: Dann danke ich Ihnen für Ihre Zeit und dieses ausführliche Gespräch.